Gert Linz Kurz vor der Mündung der Nidda in den Main..am Gaasebrickelsche... Gert Linz ,
                                 Gert Linz  Kurz vor der Mündung der Nidda in den Main..am Gaasebrickelsche...             Gert Linz                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        ,                                                                                        

1985  |Rein tasten, zuhören, Verständnis haben und ja keine Regeln verletzen

 

Als ich mich im März 1985 bei meinem Dienstantritt in der Wochenkonferenz der JVA Frankfurt am Main I morgens um 10 vorstellte, hatten die alle auf dem riesigen ovalen Konferenztisch ein Flasche Bier vor sich stehen. Irgendwas wurde gefeiert. Brav trank auch ich meine Flasche aus. Das gefiel dem Anstaltsleiter. Ich war akzeptiert. Später hatte er nicht mehr so viel Freude an mir.

Ich gehe durch Station 3,

will nur einen Mann besuchen. Da nimmt die Ärztin gerade den Leuten Blut im Glaskasten – AIDS-Test; viele stehen davor – und schon habe ich 4 – 5 Wünsche, die ich erledigen soll. Ich gehe durch den Arbeitsbetrieb, um einem etwas zu sagen, und ich kommen heraus und habe 4-5 weitere Anliegen am Hals – und nicht die einfachsten: George muss mit seiner Frau in Chile telefonieren, weil sein Sohn schwer krank ist; v.Rh. will, daß ich mit dem Richter rede, damit der ihn mild beurteilt – er hat 1 Kilo Haschisch geschmuggelt als Medizin für seine Frau, die an einer unheilbaren Krankheit leidet; OJ will Turnschuhe und zwar möglichst bald, da er jeden Tag in die JVA Butzbach verlegt werden kann. Wie ich all diese Wünsche erfüllen kann, weiß ich nicht; ich will es versuchen.

Da war schon was los an diesem Tag: Kurzer Besuch in einer Aids-Zelle; der Mann wollte nur wissen, ob seine Frau noch im Frauengefängnis ist. Zwei Afrikanern aus Nigeria habe ich Urteil und Anklageschrift übersetzt. W. wird immer depressiver; ich werde seiner Frau schreiben und um Verständnis bitten, wenn er aggressive Briefe schreibt. Og will eine Hilfe für seine Frau und Kinder, die in Chicago leben. Für Am. Soll ein Telegramm nach Bombay gehen, damit seine Frau nicht umsonst nach Paris kommt; und Mi. weiß nicht, warum er seit Monaten im Gefängnis sitzt. - 22.August

 

Die Anliegen von gestern heute nur teilweise erledigt

Das Telegramm hat 40 DM gekostet, die Rechtsanwältin war nicht da…. Bei den Gottesdiensten am Samstag und Sonntag werden wieder einige enttäuscht sein, dass ich sie nicht besucht habe.

Heute morgen gab es zwei Lichtblicke. Da war auch der Brief von John’s Eltern aus Dublin, die schreiben, wie sehr sie ihn immer noch lieben, obwohl er sie offenbar sehr enttäuscht hat; ob er auch nichts mit Drogen zu tun hätte…- er hatte.

Peter hat seine Freundin geschlagen, deshalb ist er wieder hier. Vor ein paar Wochen hat er schon einmal ganz depressiv gewirkt, ging nie aus seiner Zelle. Jetzt soll ich seine Freundin anrufen und herausfinden wie sie zu ihm steht.

Wegen Wi. Habe ich mit dem Sozialarbeiter geredet. Wi. will endlich wieder auf die Beine kommen: Alkohol und Arbeitslosigkeit haben ihn zu seinem Penner gemacht. Er ist gelernter Metzger, arbeitet aber schon lange nicht mehr in diesem Beruf; ist zu jeder Arbeit bereit, sagt er. Über Arbeitsamt und Sozialamt wollen wir es versuchen.

Im Gesprächskreis waren heute nur vier; dafür war es um so persönlicher. Gr spricht über seine Haltung zum Besitz. Macht ihm nichts aus, jetzt auf alles verzichten zu müssen: Flugzeuge mit ganzer Pilotenmannschaft, große Autos, viel Geld. Für Geld hat er nie gearbeitet, sondern nur, um aus einer Sache, einer Aufgabe etwas zu machen. Das kann einer sagen, der immer noch was im Rückhalt hat, meint Al. Er versteht nicht (glaubt nicht), daß Gr eine so lockere, distanzierte Haltung zum Besitz hat.

Wir sprechen über Einsamkeit hier und draußen. Jetzt werde ich öfter allein sein können, wenn ich  rauskommen, meint Al; früher war das unmöglich. Das ist die eine Einstellung von Gefangenen hier, die andere: warum bin ich hier, ich muß raus; indem sie mit ihrem Schicksal hadern, sind sie nicht fähig an ihre Zukunft draußen zu denken und verschlimmern ihre Zeit hier. Al hat sich unheimlich viel Selbstdisziplin auferlegt, hakt genau festgelegte Sportübungen ab, liest gezielt, ….. dann kommen doch die eigentlich „verbotenen“ Träume im Halbschlaf: Rendezvous mit einem Mädchen, das man aufreißen will, … ist es wirklich? Man ärgert sich über diese Träume, wenn man täglich alles tut, um sie nicht hochkommen zu lassen. Diese Sehnsucht hält keiner über viele Monate aus – deshalb möglichst wenig daran denken!

Musikgruppe, nicht alle sind gebracht worden. Die Leute bemühen sich intensiv, ein paar gute Songs zu bringen. Sie tun sich schwer; es ist kein gutes Sänger dabei. Giorgo kommt strahlend in den Mehrzweckraum – in neuem Jogging-Anzug und neuen Jogging-Schuhen, den einen vom Italienischen Generalkonsulat, die anderen von mir.

Jetzt brüte ich, was ich morgen beim Gottesdienst bringe. „Nicht nur einen Stehplatz für jeden“. Der Stehplatz ist schon nicht selbstverständlich. Ob ich das Zeitungsspiel mache? Vier Mann auf einer Zeitung. Nach und nach wird immer mehr von der Zeitung abgerissen, trotzdem darf man nur auf der Zeitung stehen, zum Schluss sicher aneinander gekrallt – oder einer fällt runter: STEHPLATZ. Jeder braucht seinen Platz. Manchmal scheint es, es ist kein Platz für dich. Aber mehr:  ein SITZPLATZ muss da sein für jeden. Nicht nur geduldet im Leben stehen, nein akzepiert und angenommen. Manchmal stehe ich vor dem Nichts. Ich kann davon träumen, wie es sein könnte: jeder angenommen, die Zuneigung, die er braucht, ein Platz an der Sonne. Das Stehplatzspiel lief in den Gottesdiensten ganz gut. - 23. August

 

Der Tag geht so schnell herum,

wieder Musikgruppe. Wie jeden Dienstag Besprechung in der Sozialabteilung. Zwei Sozialarbeiter überlegen, ob die Sozialarbeiter Wochenenddienst anbieten sollten, damit Ansprech- und Gesprächspartner da wären für Neuzugänge, Suizidgefährdete usw. Der Plan stößt nicht auf allzu große Zustimmung. Faulheit? Man wolle die Unmenschlichkeit des Systems nicht kaschieren. Man könne ja doch keinen vom Selbstmord abbringen. Kein großer Drang, sich einzubringen. Dann bleibt vieles wieder an der Seelsorge hängen – am Wochenende, da sind die Pfarrer dran.

Die leidige Sache mit der Zwei-Monatsfrist für die Freizeit (Neuzugänge müssen bis auf die Freistunde in der Zelle bleiben und das für zwei Monate. Es ist einfach so, sagt der Direktor, wir müssen die Kerle erst einmal kennenlernen. Die Schwierigkeit einen zu verlegen (Selbstmord, Probleme mit Mitgefangenen…) ich weiß das besser, sagt die Ärztin.

Die beste Strategie? Die Sozialarbeiter und Pfarrer müßten sich einmal gut vorbereitet gemeinsam rühren. Vielleicht auch gute Rechtsanwälte dransetzen. Selbstmorde müssen statistisch erfasst werden[1]: Gründe, ob am Wochenende, Neuzugang, Einzel- oder Zweier- oder Gemeinschaftszelle, Kontakte vorher mit wem?, besondere Vorkommnisse, Vorgeschichte des Gefangenen. - 27.August 

 

Haben und Nicht-Haben

Gedanken über das Gottesdiensthema. Mir fällt immer weniger ein. Mein altes Material fehlt mir. Oder ist es die trostlose immer wiederkehrende Gefängnismonotonie? Sind es die beschränkten Hilfsmöglichkeiten? Die Unsicherheit, was glauben die Leute wirklich?

„Haben und Nicht-Haben“ – Ein Problem hier: Es ist ja alles weg: die Beute, Frau, Kind, Besitz. Armut – frei Haben als hätte man. Das Glück hängt nicht am Haben , am Sein, meint Erich Fromm. Und was ist das? – Wenn ich platze vor Wut auf einen, der mich verpfiffen hat. Und erst recht, wenn ich wirklich auch unschuldig bin. Wenn ich nicht verstehe, warum es ausgerechnet mich trifft.

23 Stunden allein oder mit einem Fremden in der Zelle. Allein mit der Schuld, wenn sie so empfunden wird; allein mit der Vergangenheit und all den Selbstvorwürfen. Das ist „Sein“ Ganz schön beschissenes Gefühl. Was bin ich überhaupt noch, wenn ich nichts mehr tun kann. Verhaftung ist ganz schön erniedrigend. „Selig die Armen, denn…“ Was ist „Sein“ hier? = Mensch sein, Mensch bleiben?

  • Selbstbewußtsein bewahren, wie es gegenüber jedem Mächtigeren, Einflussreicherem ausgebildet und gezeigt werden muss, aber so dass es nicht provoziert, sondern beeindruckt. Vielleicht auch ein gewisses Mass an Überheblichkeit, wenn die Schwächen, die Angst des Mächtigeren deutlich werden: Der Andere kann mich eigentlich gar nicht anmachen, ich bin wer und das genügt. (Der Gr kann das, aber der kleine Penner?)
  • Unternehmungsgeist, Neugier bewahren. Die Zusammenhänge klar kriegen. Die Amtswege versuchen; Ungereimtheiten zur Sprache bringen (anprangern?).
  • Sich selbst disziplinieren, einen Tageslauf aufzwingen. (Als ich dann so einen dürren Tageslauf in einer Zelle sehe, merke ich dann wieder beschämt, wie kastriert die Leute sind).
  • Die Sehnsucht nach Haben in Grenzen halten. Wissen: Ich werde hier mit derselben Gier nach den kleinen Sachen greifen oder sie mir vorträumen, wie draußen nach den großen. - 30.August

[1] Der Psychologe Rick hat das später gemacht  - mit dem Ergebnis, dass die meisten Selbstmorde während der Isolation in der Zwei-Monatsfrist passiert waren! Wer war für diese Tode verantwortlich? Später  gab es auch eine Statistik des Justizministeriums, die die schlimmen Vermutungen bestätigte – aber viel später.

Wie die Kinder

Am Wochenende habe ich in den Gottesdiensten gesagt, dass die Leute hier wie die Kinder sind:

  • Man versucht, sie zu erziehen.
  • Sie sollen kurz gehalten werden.
  • Andere bestimmen über sie.
  • Sie „haben“ nichts.

Aber

  • Kinder sind neugierig.
  • Kinder sind offen,
  • Haben eine Zukunft,
  • Vertrauen.

 

Wenn jemand in diesem Sinne hier akzeptiert, dass er Kind ist, ist alles drin. 3. September 

 

 

Kindsein, das heißt auch

unbefangen sein, staunen können, die kleinen Dinge als interessant und wichtig empfinden.

Im Gesprächskreis haben wir das Thema vom Gottesdienst noch einmal aufgegriffen. Kindsein im schlechten Sinne kann nicht im Frage kommen, also das Positive für die persönliche Lebenssituation der Leute hier… 6. September 

 

Mit Kinderbildern

habe ich im Gottesdienst versucht zu verdeutlichen, was für uns an Kindern so nachahmenswert sein könnte. Ich glaube es ist ganz gut gelungen.

Gestern ist A. endlich entlassen worden. Das ist deutsche Justiz. A. hat(te) ein spanisches Restaurant in O.. Einmal waren Marokkaner im Lokal. Einen hat er rausgeworfen. Im März wurde A. verhaftet. Ein Marokkaner – oder deren Mädchen hat ausgesagt, dass er in Käse aus Holland Heroin geschmuggelt habe und mit ihrer Marokanerclique zusammengearbeitet hätte. Die ersten 10 Wochen verbietet der Staatsanwalt T., Darmstadt, jeden Besuch. A.s Frau läßt nicht locker, ruft den Staatsanwalt immer wieder an, darf endlich ihren Mann besuchen. Der erste Rechtsanwalt aus Offenbach tut kaum etwas für A.. Er wechselt zu Johannes Hoffmann aus Frankfurt. Vor 3 Wochen sagt der Staatsanwalt zu mir am Telefon: „Nun muss ich mir wirklich mal überlegen, ob ich ihn nicht doch mal raus lasse“. „Jetzt wird’s aber Zeit“, meine ich. 10 Tage wartet A. in der Haft. Aber sein Pass kommt vom Ausländeramt nicht zum Untersuchungsrichter. Inzwischen ist das spanische Restaurant in O. kaputt. Die Leute in O. wissen, dass A. wegen Rauschgift sitzt. Noch kurze Zeit hatten seine Frau und die 15jährige Tochter versucht, das Restaurant weiterzuführen, ohne Erfolg. Nun arbeitet sein Frau einem anderen Restaurant in Offenbach und die Tochter hat einen Job nach der Schule. Am Schluss wird A. fast depressiv. Sechs Monate Hoffen und Warten, unschuldig, die Sorgen um die Familie, die Existenz, mühsam aufgebaut. Zum Glück hatte er einen ruhigen, ausgeglichenen Spanier auf der Zelle, hatte nach 3-4 Monaten einen Platz im Arbeitsbetrieb, war in der Musikgruppe – das hat ihn immer wieder abgelenkt. Ich weiß nicht, was ich in einer solchen Lage getan hätte. Mit seiner Frauen habe ich viel telefoniert. Sie sagt, ich hätte ihr viel geholfen; ohne mich hätte sie das nicht ausgehalten – und ich habe doch eigentlich noch wenig getan.

Nachdem er entlassen war, kam A. regelmäßig in die Anstalt, um die anderen spanischen ehemaligen Mitgefangenen zu besuchen.

 

Ich muss achtgeben, dass meine Elefantenhaut nicht schon zu dick wird.

Was so alles passiert:

  - Einem Libanesen wird das Essen verweigert, weil er in einem “schlafanzugähnlichen“ Gewand aus der Zelle kommt. So ein Trottel vom AVD kann sich nicht vorstellen, dass man im Libanon nicht unbedingt im Anzug rumläuft.

   - Ein Holländer aus Curaçao kriegt kein Essen, weil er eine Turnhose trägt.

   - Ein Jude, dessen Sohne gestorben ist darf nicht mit zwei anderen Juden die Trauerstunde halten, wie es das Gesetz vorschreibt, weil vor Jahren ein Oberstaaltsanwalt jede Zusammenkunft von Israelis untersagt hat – telefonische Auskunft von Klüsener.

    - Männer, die laut Anklage Komplizen waren, dürfen nicht zusammen in den Gottesdienst oder in eine Gruppe, obwohl der Richter nichts mehr dagegen hat (schriftlich bestätigt!), weil sie ja wieder etwas zusammen „anstellen“ könnten.

  - „Wunschverlegungen gibt es nicht“, heißt es immer wieder von Bereichsleitern und der Zentrale – und dann wird doch „wunschverlegt“ – nach Maßstäben, die keiner versteht. Ich muss taktieren. Bereichsleiter Schneider, ein alter bayerischer Knallkopp, lehnt die Verlegung von Okuwo ab: „Hat Komplizen.“ Ich behaupte nein und sehe nach. Er hat wirklich keinen, sein Komplize ging im Juli. Jetzt fühlt sich Schneider verpflichtet, besucht Okuwo und will verlegen. Sobald was frei ist.

    - Der Stationsbeamte im Kleinen Haus hat mich angerufen, ob ich nicht etwas Tabak übrig hätte. Es gäbe da so viele arme Schlucker, die keinen Einkauf und nichts hätten. Ich habe ihm den Tabak sofort gebracht.

  - Am Sonntag habe ich zwei Nigerianer getauft: Bangbabe und Ogunjimi. Sie standen da wie eine Eins und waren so aufgeregt.. Ob die fünf Taufgespräche genützt haben, die wir miteinander geführt haben und sie jetzt etwas mehr wissen über den christlichen Glauben? Als die Taufe beendet war, gab es starken Applaus.

 

Heute hatte ich die Idee, an das Goethe-Institut zu schreiben. Das ist hier der ideale Platz Deutsch in die Welt zu tragen. Obwohl ich das alles sehr konkret geschildert habe mit methodischen Überlegungen und so, habe ich keine Antwort bekommen. - 10. September 

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